6.9.05

1. (Selbstbestimmtes) Leben

Als ich das Heim, im Jahr 1998, verliess, war das der bedeutendste Schritt in das selbstbestimmte Leben. Doch wie kam es dazu? Zwecks eines Studiums war ich nach Zürich gekommen. Ich habe mich für Geschichte entschieden; am Anfang fühlte ich mich hier nicht wohl, daher entschied ich mich für ein Auslandsemester. Es spielte für mich keine Rolle wo: Ich wollte nur weg von Zürich und die Welt kennen lernen. Da ich bald sah, dass für mich als Behinderter am ehesten ein Studienort in Skandinavien in Frage kommen würde, entschied ich mich für Schweden. Schon lange bevor ich ging, fragte ich das Heim (das IWB, wohin ich gelandet war), ob es okay wäre, wenn ich ein halbes Jahr abwesend wäre, was natürlich bejaht wurde. Als ich mich tatsächlich verabschiedete, gab man mir plötzlich zu bedenken: „Natürlich müssen Sie für Ihre Abwesenheit zahlen, aber das ist kein Problem: die IV tut’s“. Was für mich logischerweise inakzeptabel war. Wenn die IV schon für eine, allerdings nicht beanspruchte, Leistung in der Schweiz zu zahlen hätte, so würde sie mit Sicherheit nicht die Pflegekosten in Schweden übernehmen. Somit kündigte ich im Heim und suchte für meine Rückkehr einen anderen Ort, nämlich das Wohnheim Balgrist.

In Schweden wohnte ich in einem Studentenheim, nicht etwa nur für Behinderte, sondern einfach eine normale und Rollstuhl gerechte Wohnung. Ich erlebte dort eine schöne und wichtige Zeit für mich. Ich sammelte viele wesentliche Erfahrungen für mein Leben: Vor allem sah ich, dass selbstbestimmtes Leben möglich wäre und dass das Heim – was ich natürlich schon vorher erfahren hatte – eine sehr schlechte Lösung für alle Behinderte darstellt.

Wieder zurück in der Schweiz erlebte ich genau das Gegenteil vom selbstbestimmten Leben: Ich erlebte ein klassisches Heim, noch viel schlimmer als das frühere und zwar so schlimm, dass ich zwei Semester an der Uni aussetzen musste. Nach dieser Zeit hatte ich das immense Glück, von einem alten Bekannten zu vernehmen, dass seine Wohnung frei würde. Natürlich meldete ich mich sofort dafür an und konnte sie im Herbst darauf beziehen. Die vorläufig gut laufende Pflegeassistenz besorgte mir am Morgen die Spitex und am Abend - da die offizielle Spitex nur bis 19.30 Uhr im Einsatz war - die Internursing. Dies änderte sich abrupt mit der Bekanntgabe der Spitex, sie könnte nicht mehr ihre Einsätze bei mir vollbringen, weil die Finanzierung durch die Krankenkasse nicht mehr gewährleistet wäre. Von der Pro Infirmis wurde gesagt, jetzt wäre wohl die Zeit gekommen, ein bisschen Demut zu zeigen und so wie JEDER Behinderte in ein Heim zu gehen. Worte, die ich noch heute höre. Doch da ich mir mittlerweile geschworen hatte, in die Kiste, ins schlimme Gefängnis, nur über meine Leiche zurückzukehren und da ich vom ZSL erfuhr, dass ein negativer Entscheid der Krankenkassen nicht gesetzmässig war, wandte ich mich mit gebeugten Knien an die Schweizer Presse: Im 10 vor 10 zeigte ich den schrecklichen Brief der Spitex und in der Zeitschrift K-Tipp lästerte ich über meine Krankenkasse. Und ich bekam Recht.

Die Krankenkasse schrieb mir darauf einen netten Brief und entschuldigte sich und sicherte mir die weitere Übernahme der anfallenden Pflegekosten zu. Inzwischen konnte ich an der Universität gut abschliessen (für die schriftlichen Prüfungen bekam ich eine sehr gute Note, für die mündlichen: den Umständen entsprechend).

Wie in so vielen Fällen ist auch meine Behinderung progressiv. Da aber selbstbestimmtes Leben gar nichts mit selbständigem Dasein zu tun hat, kam es mir gar nicht in den Sinn, traurig in die Zukunft zu blicken. Traurig hätte mich gemacht, wenn das Bundesparlament im Sommer 2003 sich gegen die Erhöhung der Ergänzungsleistung und somit gegen das selbstbestimmte Leben entschieden hätte. Glücklicherweise traf dies nicht ein: Der parlamentarische Entscheid fiel – dank einem (man höre und staune) Meinungswechsel der SVP! – positiv aus. Und ich schätze mich überglücklich, als eine der ersten Personen bei der bereits vor zwei Jahren entschiedenen Erhöhung der Ergänzungsleistung bis zum Betrag von 90'000 Franken mitzumachen. Da ich mir von Anfang an bewusst war, dass ich keineswegs der einzige Behinderte in einer ähnlichen Situation bin, war es mir ein Anliegen, nicht nur eine gute Lösung für mich zu suchen, sondern wenn möglich auch für andere.

Dass es aber kein Kinderspiel ist, Arbeitgeber zu sein, und dass man sehr leicht auf die Schnauze fällt, habe ich mittlerweile auch erfahren. Dazu das nächste Mal…