24.2.07

29. Kleiner Beitrag zur Segregationsgeschichte

Mit diesem Blog möchte ich einem grösserem Publikum Zugang zu meinem letztjährigen Vortrag an der Universität Zürich ermöglichen (allerdings ohne Anmerkungen und Bibliografie). Das Original befindet sich in: Erich O. Graf, Cornelia Renggli, Jan Weisser (Hrsg.): Die Welt als Barriere. Deutschsprachige Beiträge zu den Disability Studies. (Bern 2006). In diesem Buch befinden sich noch viele andere teilweise sehr lesenswerte Beiträge.

»[…] ihr nutz- und freudloses Dasein in Heimen verdämmern«
Die Versorgung des Phantasmas ‚Behinderte’


Zum Zitat im Titel: Die Schweizer Ärztin Paulette Brupbacher meinte in ihrer 1953 erschienen Schrift über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, ohne eugenische Indikation würde »der Gemeinschaft die Erhaltung körperlich oder geistig unbrauchbarer, lebensuntauglicher Elemente zugemutet, die, nirgends eingereiht, ihr nutz- und freudloses Dasein in Heimen verdämmern.«
Zum Untertitel: Ein Phantasma ist ein Vorstellungsbild.
Wie bereits angekündigt, möchte ich heute meine sozialgeschichtliche Arbeit vorstellen. Da wir uns an einem interdisziplinären Kongress befinden, möchte ich kurz mein Fach vorstellen. Von allen mir bekannten Geisteswissenschaften, den sog. ungenauen Wissenschaften, ist die Historie die Genauste: in der Geschichte spielt – vielleicht im Gegensatz zu anderen Phil.I-Fächern – weniger die persönliche Meinung des Autors eine Rolle, als viel mehr dasjenige, das schwarz auf weiss, d.h.: an Hand schriftlicher Quellen, nachgewiesen werden kann. Aus diesem Grund werde ich Ihnen bereits in diesem kurzen Vortrag relativ viele Zitate aus der zu untersuchenden Zeit präsentieren.
In der genannten Arbeit versuche ich die Frage zu beantworten: wie, wann und vor allem wieso kam es zur Geburt bzw. zur Erfindung von sog. und gerade in der Schweiz noch heute massenweise vorhandenen und sehr kostspieligen Heimen für die vermeinte Gruppe der Behinderten. Einleitend dazu möchte ich Ihnen – da wir uns an der Universität Zürich befinden und da die meisten Zuhörer Sonderpädagogen sind – ein Zitat vom ersten Inhaber des Lehrstuhls ihres Faches in Zürich, Prof. Dr. Heinrich Hanselmann, vorstellen:
»Für alle […] nicht genügend zu schützenden Fälle bleibt nur die dauernde Internierung [zwangsweise Verwahrung] übrig, [...] wobei eine Sterilisierung sich wohl zumeist erübrigt. Entweder kommt die Unterbringung in einer Irrenpflegeanstalt in Betracht, für andere Fälle müsste vielleicht die geeignete Anstalt […] erst noch geschaffen werden. Die selbstverständlich geschlechter-trennende Unterbringung schliesst eine Fortpflanzung praktisch fast ganz aus.«
Frage an das Publikum:
Wovor und wer muss da geschützt werden?
Und weiter meinte Hanselmann:
»Die bestmögliche Verhinderung der Fortpflanzung von Geistesschwachen der mittleren und schweren Grade, einer Grosszahl ausgesprochen psychopathischer Persönlichkeiten, sowie von Geisteskranken der degenerativen, endogenen Formenkreise ist vom Standpunkt der Volkswohlfahrtspflege ein dringendes und unausweichliches Erfordernis. […] In der Grosszahl der Fälle von Geistesschwachen und Psychopathen, sowie bei manchen geeigneten Geisteskranken kann dieses Ziel durch eine planmässige nachgehende, meist lebenslänglich notwendige Fürsorge erreicht werden; diese Einrichtung ist vom wirtschaftlichen Standpunkt aus, richtig berechnet, nicht nur von der Gesellschaft tragbar, sondern sie stellt auch den besten Weg dar, diesen vermindert leistungsfähigen Mitmenschen die ihnen angemessene menschenwürdige Lebensform (»Lebensglück«) zu vermitteln. «
Heinrich Hanselmann war eine Gestalt, die wohl verstanden etwas dagegen gehabt hätte, wenn man ihn als Nazi bezeichnet hätte, und theoretisch war er es tatsächlich nicht, sondern nannte sich eben einen guten Schweizer. Diese 1938 geäusserte Meinung war keineswegs ein ausschliesslich persönlicher Vorschlag zur Dezimierung der Minderwertigen, sondern diese Ansicht war zu jener Zeit common sense, und zwar nicht nur im Dritten Reich, sondern in ganz Europa und den USA:
So meinte etwa der Berner Privatdozent Stavros Zurukzoglu in einer Aufsatzsammlung von verschiedenen Schweizer Eugenikern, in welcher sie für eine Nachahmung des von den Nazis kurz nach dem Machtantritt Hitlers [1933] eingeführten Sterilisationsgesetzes plädieren:
»Asylierung, eugenische Fürsorge, nachgehende Fürsorge und Heime. Als Mittel zur Verhinderung der Fortpflanzung von Erbkranken kommt auch die Unterbringung in geschlossenen Anstalten in Betracht. Der Zustand vieler Erbkranker ist ein solcher, dass eine Dauerversorgung in Anstalten unumgänglich ist. Dadurch wird gleichzeitig auch die Verhütung erbkranken Nachwuchses erreicht. […] So sehen wir, dass die Asylierung nicht als Gegensatz zu anderen eugenischen Massnahmen, z. B. der Sterilisierung, aufzufassen ist. Auch die Meinung, dass durch eine Umgestaltung des Asylierungswesens andere Massnahmen entbehrlich würden, ist nicht stichhaltig.
Und weiter meinte derselbe:
»Will man aber die Bestrebungen der Eugenik sinnvoll in das Gesamtgebiet der hygienischen Massnahmen einbauen und den Kantonen, die aus religiösen und weltanschaulichen Gründen die Sterilisation ablehnen, die Handhabe für eine wirksame Eindämmung der Fortpflanzung Erbkranker in die Hand geben, so muss nach einer Regelung gesucht werden, die nicht auf die Sterilisation allein abstellt, sondern die der Verhütung erbkranken Nachwuchses dienenden Massnahmen, wie Eheberatung, Asylierung, nachgehende Fürsorge, Bewahrungsheime usw. miteinbezieht. «
Doch woher kommt diese bizarre Ansicht? Die Beantwortung dieser Frage führt uns in die Zeit zurück, in die von den Historikern sog.: Fin de Siècle, ins – wie es Joachim Radkau treffend nennt: Zeitalter der Nervosität – in die Zeit von ca. 1880 bis etwa 1939 zurück. Dabei ist es nötig, in Erinnerung zu rufen, dass die Bezeichnung Behinderte ein relativ neuartiges Phänomen ist, das erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs auftaucht.
Gab es vielleicht vorher keine Behinderte? Ähnlich wie die Frauenbewegung Sex und Gender trennt [die sozial konstruierte Geschlechtsunterscheidung], so muss man auch hier differenzieren zwischen der naturgegebenen Behinderung einerseits und der Medizinalisierung [Zuwendung zur Medizin] der Behinderung bzw. Behinderten, die vor dem 19. Jh. schlichtweg nicht existierte. Die genannte Zeit ist der Beginn der Pathologisierung der vermeinten Gattung. Nach der Aufklärung, besonders während des 19. Jahrhunderts, wurden verschiedene Krankheiten erfunden, die es vorher nicht gab. Gab es vor dem 19. Jahrhundert und vor der Aufklärung vielleicht keine Behinderte? Menschen mit einer Behinderung gab es natürlich schon immer und zwar – prozentual gesehen - viel mehr als heute; allein… sie wurden nicht als eine Gruppe identifiziert.
Und tatsächlich findet sich – im 12. Jahrhundert, im oft vermeinten finsteren Mittelalter, und hier in der Nähe – ein hervorragendes Beispiel, welches Antonovskys Salutogenese beweist und der dank persönlicher Assistenz zu einem der bedeutendsten Gelehrten des Mittelalters wurde: Hermann der Lahme, auf welchen ich in diesem Vortrag aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann.
Mindestens bis etwa in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, in der Schweiz bis etwa in den 70er Jahren, war die übliche Bezeichnung für dasjenige, was man heutzutage als Behinderte bezeichnet: entweder Schwachsinnige, Anormale, Geisteskranke, Idioten, Perverse, Psychopathen, Neurastheniker (die Hauptursache der Neurasthenie wurde meistens in der Selbstbefriedigung junger Männer gesehen. Die Neurasthenie ist heute noch – in sehr rückständigen Ländern - eine gültige medizinische Diagnose, die mit Unterbringung in einer Psychiatrie behandelt wird), Hysterikerinnen, Nervöse, Elende, [vorzeitig] Demente [= Dementia praecox] oder Schizophrene, Untüchtige, Hirngelähmte [der berühmte Philosoph Friedrich Nietzsche litt anscheinend an dieser mysteriösen Krankheit], oder Ballastexistenzen oder einfach Entartete bzw. Degenerierte und Erbkranke oder Irre. Die Definierung und Unterscheidung dieser neuen Krankheiten war diffus und lautete mehr oder weniger bei jedem Psychiater – und das waren die Autoren meiner Untersuchung – anders.
Sehr wichtig für das Verstehen unserer dramatischen Geschichte, die ohne Zweifel ihren Höhepunkt in Nazi-Deutschland erlebte, ist folgender Umstand: die in der Schweiz erst seit der Verfassungsreform von 1999 offizielle Unterscheidung zwischen geistiger, psychischer und körperlicher Behinderung sowie Sinnesbehinderung, war bis vor Kurzem gänzlich unbekannt.
Ein weiteres wichtiges Faktum für das Entstehen der Behindertensegregation war die in der Zeit der Fin de Siècle entstandene Degenerationsangst.
Die religiös geprägte und in der Mitte des 19. Jh. vom Franzosen Benedict Augustin Morel erfundene Degenerationstheorie sagte aus:
• dass die Entartung im doppelten Sinn vererbt werden könne: sowohl körperlich wie auch
moralisch.
• dass die Entartung progressiv sei und zwar bis zum Aussterben der betroffenen Familien.

Sinngemäss fasste Morel seine Theorie folgendermassen zusammen: Am Anfang treten in einer Familie psychische Abnormitäten und sittliche Verwahrlosung auf. In der folgenden Generation schliessen sich schwere Neurosen und Alkoholismus an. In der dritten und vierten Generation kommen schwere geistige Störungen, angeborener Schwachsinn und Missbildungen aller Art hinzu. Durch Unfruchtbarkeit stirbt dann die betroffene Familie aus.
Wohlgemerkt: all die obigen Zitate stammen aus der Zeit vor dem eigentlichen Boom von Heimen, der erst in den 60er Jahren mit der Schaffung der IV in der Schweiz eintrat. Die oben Zitierten stiessen nämlich auf ein ernsthaftes Problem: die Kostenfrage. Dazu ein weiteres Zitat:
»Die Asylierung wird mehr vom Standpunkt der individuellen Gefährdung oder Gemeingefährlichkeit durchgeführt. Eine Asylierung, ausschliesslich zum Zwecke der Geburtenregelung, ist schon wegen der Grösse des Ausmasses und der ungeheuren Kosten von keiner Volksgemeinschaft durchzuführen. «
Frage an das Publikum: Was meinte Guggisberg wohl mit Gemeingefährlichkeit?
Seit der Einführung der IV schossen in der Schweiz die Heime wie Pilze aus dem Boden. Nun plötzlich war die Kostenfrage der Asyle mit einem Male gelöst. Die Finanzierung der Heime war und ist aber bei weitem nicht der einzige Ehrgeiz der IV. Als Ganzes betrachtet bedeutete die Schaffung der IV – trotz des diskriminierenden Namens - sicherlich einen immensen Fortschritt in der schweizerischen Sozialpolitik. Die sehr grosszügige Subventionierung von den sehr häufig vorhandenen Heimen ist aber u. a. verantwortlich für den heutigen, jämmerlichen Bankrott der IV. Ähnlich wie die ehemalige Vereinigung für Anormale, die konsequenterweise nach der Einführung der IV abgeschafft hätte werden müssen, war es nun je länger je mehr mit den Heimen: es entwickelte sich ein riesiger Geschäftszweig, welcher ein einziges Ziel vor Augen hatte: die Selbsterhaltung. Die stillschweigende Absicht ist es nicht etwa, den armen Behinderten zu helfen. Im Gegenteil: sehr oft müssen die Bewohner ihre Einkerkerung mit dem Leben bezahlen; der eigentliche Ehrgeiz ist die Aufrechterhaltung der Betreuungsindustrie. Die Beibehaltung von zum Teil überflüssigen, relativ gut bezahlten Jobs. Das monopolistische Heimkartell ist heute unter dem Namen CURAVIVA tätig.
Und wer wehrte sich mit Händen und Füssen gegen die Schaffung der IV? Es ist kein Zufall, dass es sich dabei um die Vereinigung für Anormale handelt. Sie wurde 1919 nach dem negativen Ausgang der IV-Diskussion im Schweizerischen Parlament als Pseudoersatz dafür gegründet. Seit 1935 nennt sie sich Pro Infirmis [lat. für die Schwachen] und heutzutage will sie nicht mehr für Anormale, sondern für alle Behinderte da sein. Bei der Einführung der IV befürchtete sie, dass nun sich plötzlich ihre eigentliche Einnahmequelle erschöpfen würde: das absolute Elend der Anormalen bzw. Infirmi.

SCHLUSSWORT
Obwohl die Diskriminierung einzelner Behinderungen wahrscheinlich so alt wie das Menschengeschlecht ist, kann von einer systematischen Verfolgung und Segregation erst seit dem späteren 19. Jahrhundert., seit der späteren Aufklärung bzw. als Folge der Industrialisierung, die Rede sein.
Der Sozialdarwinismus und besonders die daraus folgende Eugenik beruhte auf einem furchtbaren Irrtum. Nämlich auf der Degenerationstheorie.
Überdeutlich ist bei der Geschichte der Asylierung die stets präsente Sexualisierung. Deutlich erkennbar wird dieses Moment nicht nur in George Beards Neurasthenie oder bei Charcots Hysterie, sondern in der gesamten psychiatrischen Literatur der Nervosität begegnet sie uns auf Schritt und Tritt: am deutlichsten vielleicht im Buch von Krafft-Ebing. Was er dem Leser in seiner Pathologia Sexualis bietet, ist die reinste Pornographie. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: die Schrift vom Zürcher Prof. und ersten Direktor vom Burghölzli August Forel in seiner Sexuelle Frage.
Bei der Asylidee handelte es im Wesentlichen um die Verhinderung der Fortpflanzung, um eine Sexualkontrolle. Der gesamte Heimdiskurs handelte sich darum, und nicht etwa um die Frage, ob es günstiger sei, Anormale massenweise zu pflegen oder nicht.
Der bereits erwähnte Berner Eugeniker Prof. Dr. Hans Guggisberg etwa meinte:
»Die erbliche Veranlagung eines einzelnen Menschen kann nicht willkürlich geändert werden. Nur die einer ganzen Bevölkerung lässt sich umstellen, dadurch, dass wir die Fortpflanzung regeln, die Tüchtigen, Hochwertigen vermehren, die Untüchtigen ausschalten. Zielbewusste Zeugung ist der Weg, der zur Gesundung des Volkes führt. Leider ist die heutige Zeit weit entfernt von diesem Ziel. Zwar entspringt die Zeugung nicht mehr jener naiven Einstellung früherer Zeiten. Das Triebleben kommt unter die Herrschaft des Verstandes; das Sexualleben wird rationalisiert. «