9.12.07

35. Besuch bei der „Berufsfindung“

Schon im Frühherbst wurde mir bei einer kardiologischen Untersuchung ein Medikamentenwechsel empfohlen. Beim Selbstversuch fiel ich in Ohnmacht. Da erkannte ich die Notwendigkeit eines Klinikaufenthaltes für den genannten Wechsel. Diese Klinik wurde daraufhin bald von der mich betreuenden Ärztin gefunden und ich bekam einen sehr kurzfristigen Eintrittstermin: Es war das bei allen Rollstuhlfahrern berühmt-berüchtigte Paraplegikerzentrum in Nottwil. Von dieser Klinik bekam ich sofort einen positiven Eindruck, erfuhr aber auch eine deftige Ohrfeige, von der sich mein armes Gemüt immer noch nicht erholt hat. Deren Hergang möchte ich nun veröffentlichen.

Bald nach meiner Ankunft erfuhr ich, dass dort unter anderem eine so genannte Berufsfindung angeboten wird. Mit Hinblick auf die bald in Kraft tretende fünfte IV-Revision – bei der eine solche uns Behinderten zur Pflicht sein wird – meldete ich mich freiwillig zu einer Sitzung an. Möglicherweise wären doch all meine Zweifel an einer professionellen Berufsfindung falsch gewesen und womöglich konnte sie mir beim Finden eines Jobs helfen. Wer weiss: Probieren geht ja bekanntlich über Studieren. „Mal schauen, jetzt bin ich“, so meine Gedanken, „ja noch in der komfortablen Situation, dass ich vollkommen freiwillig zu einer ‚Berufsfindung’ hingehen kann.“ Einen Termin bekam ich erst in der vierten Woche meines einmonatigen Aufenthaltes. Ich hatte eine gewisse Vorstellung davon, was ich sagen wollte: Von meinen Fähigkeiten, meinen Wünschen und Vorstellungen wollte ich berichten. Es kam aber ganz, ganz anders…

Ich betrat mit vollem Elan und hohen Erwartungen das Büro des ‚Berufsfinders’. Mit einer flüchtigen Geste begrüsste er mich und noch bevor ich mich vorstellen und über meine Wünsche sprechen konnte, fing er an: „Ich habe gelesen, dass sie wieder ins Berufsleben einsteigen möchten.“ Da musste ich einwenden: „Nein das ist falsch“, erwiderte ich, „da ich gar noch nie gearbeitet habe – denn ich hatte noch nie die Gelegenheit dazu - kann von ’wieder’ nicht die Rede sein. Was ich suche ist: ein Job, eine Verdienstmöglichkeit, einen Ort, bei dem meine Fähigkeiten geschätzt werden und bei dem ich mein Potential und mein Wissen einsetzten und entfalten kann.“
Er tat so, als würde er mich nicht verstehen. Darum wiederholte ich meinen Einwand. Darauf unterbrach er mich jäh: „Hören Sie, Herr Buchli… Sie bekommen ja eine 100-prozentige IV-Rente… also kann ich ihnen keinen Job finden…“ Solch eine Entwürdigung! Ich fühlte mich wie ein geschlagener Hund und klein wie ein zerdrückter Wurm, ja, geradezu winzig wie eine Bakterie. Ich fühlte mich wie vom Blitz getroffen. Mein Adrenalin schoss mir blitzschnell ins Blut. Jemand stellte meine Existenz in Frage. Mir war, als würde mich, eine mir bis vor kurzem gänzlich unbekannte Person, treten und schlagen und ohrfeigen. Ich kochte vor Wut. Alles in mir rebellierte und setzte sich blitzartig zur Wehr. Ich wollte sofort sein Büro verlassen. Aber leider kam es vorläufig nicht dazu. Vor lauter Aufregung und Existenzangst bekam ich solche Spasmen (unkontrollierte Bewegungen), dass ich im Rollstuhl versank wie eine faule Banane und mich weder bewegen noch sprechen konnte. Mir war als würde er innerlich triumphieren. Er trat näher zu mir, schaute böswillig auf mich hinunter und meinte kaltschnäuzig: „Ich sehe ja ihren Zustand. Und ihr Zustand ist… nicht gut. Und wissen Sie, Sie müssten sich in der freien Marktwirtschaft durchsetzen. Und das könnten Sie ja nicht. Nein Herr Buchli, für Sie gibt es keinen Job!“ Der Experte hatte gesprochen. Wie motivierend! Und wie nett! Jetzt wusste ich woran ich war. Für mich gibt es keinen Job. Wie schön! Und alles, weil ich bereits eine IV-Rente habe! Das bereits in der Abstimmungsdebatte um die fünfte IV-Revision vom BSV-Chef persönlich dargelegte Versprechen (vgl. letzter Blogbeitrag) war wohl eine leere Zusicherung und soweit entfernt wie der Pluto. Meine Erscheinung löste in ihm offenbar Angst und Schrecken aus. Sein Benehmen krönte unsere gegenseitige Antipathie und ich hätte ihn am liebsten lebendig gehäutet. Als ich dem herbeigerufenen Arzt von diesem Schreckenserlebnis mitteilte und ihm die Frage stellte, was diese Berufsfindung überhaupt soll - denn sie bringe uns überhaupt nichts, sondern schadet uns höchstens – gab auch er zu, dass ich keineswegs der Erste sei , der dies meine. Die IV-Revision sieht solche sinnlose Beamtenstellen massenweise vor.
Meine Beratung beim vermutlich sehr gut bezahlten „Berufsfinder“ hatte ganze drei Minuten gedauert. Hatte mir überhaupt nichts gebracht, aber mir sehr geschadet: Ich hatte fast eine Herzbaracke bekommen! Meine bzw. unsere schlimme Vermutung hatte sich also voll und ganz bestätigt: wo es nichts gibt, gibt es auch wenig zu beraten! Zuerst müssen die Gesetze und alle Randbedingungen erfüllt sein. Und erst dann kann an eine Berufsfindung gedacht werden. Vorher ist sie eine Quadratur des Kreises. Also gänzlich unmöglich!

Nach diesem schrecklichen Erlebnis musste ich unwillkürlich an zwei historische Persönlichkeiten, die, obwohl beide schwerbehindert, einen hervorragenden Beruf ausübten: Die erste ist Herrmann der Lahme und die zweite Persönlichkeit ist der Behindertenberater unter Präsident Clinton. Auch deren Anblick hätte ohne Zweifel diesen sehr zweifelhaften Berufsfinder zu einer ähnlichen Einschätzung bewegt. Und mit Wehmut musste ich an die von der UNO kürzlich angenommene Konvention der Rechte für Menschen mit einer Behinderung denken, die im Artikel 27 die Rechte von Behinderten zur Arbeit gleichstellt mit denen von Nichtbehinderten.
Dies war also eine kleine Kostprobe auf die schon bald Realität werdende 5. IV-Revision. Und eins kann ich schon versichern: Sie schmeckt bitter, beschissen!
Für solche „Berufsfinder“ ist sie aber sehr gut und sehr lohnend: sie wird eine satte Armee solcher gut bezahlten Beamten schaffen, die in der freien Marktwirtschaft – um bei seiner Wortwahl zu bleiben – kaum eine Chance hätten.