10.8.09

61. „Das nutz- und freudlose Dasein“ * der Fränzi B. oder: Was ist „selbsterfüllende Prophezeiung“

In nachfolgendem Blogbeitrag geht es mir darum, darzustellen, was die „selbsterfüllende Prophezeiung“ ist: Was bedeutet sie im konkreten Fall für einen Menschen.

*Zitiert nach Paulette Brupacher, einer ehemaligen Gynäkologin.

FRÄNZI B. ist 22 Jahre alt. Seit ihrem vierten Lebensjahr wohnt FRÄNZI B. im „Kranken- und Invaliden-Pflegeheim Sonnenschein“ in einem Vorort von Z.. FRÄNZI B. hat dunkelbraune Augen, blond-gelocktes Haar und einen schönen Mund. FRÄNZI B. hat eine etwas verdunkelte Brille und spricht langsam, undeutlich und sehr leise. FRÄNZI B. sitzt in einem hellblauen Elektrorollstuhl der Marke Quickie. Meine Fragen werden von Martin L. gestellt. Einen Beruf hat FRÄNZI B. nicht. Zwei Tage in der Woche arbeitet FRÄNZI B. in einer nahgelegenen geschützten Werkstatt. Das Interview wurde in ihrem Wohn- und Schlafzimmer, das sie mit zwei ebenfalls anwesenden Bewohnerinnen teilt, durchgeführt.

MARTIN: Fränzi, wie alt bist du?
FRÄNZI B.: Also… eigentlich… also… ja… 22… jaja... eigentlich… und sogleich fügt sie hinzu: ...aber...
eigentlich ... jaja... eigentlich... also... bin… also… eigentlich… bin ich damit…jaja… schon
eine alte Frau… und so... und nach einer kurzen Pause fährt sie weiter: jaja,... eigentlich bin
ich... also... ich bin... schon über 70 Jahre... eigentlich... die Lebenserwartung... also... für Leute
mit meiner Krankheit... also…ja… jaja… meine Lebenserwartung… jaja… die liegt bei 25…
und so...verstehst du?..... mit 25….da bist du fertig, aus….Schluss, verreckt… ehm…ehm… tja… toter als tot… so ist es halt… noch drei Jahre.
MARTIN: Was hast du denn für eine Krankheit?
FRÄNZI B.: Fraibacher …. das ist... ja... eine... also... ja… eine unheilbare… jaja… also…
Muskelkrankheit… und so... kennst du Fraibacher?
MARTIN: Nein, den kenne ich nicht.
FRÄNZI B. (mit erstaunlich klarer Stimme):
Hihi… das ist schon klar… ehm… meine Güte… dass du ihn nicht kennst….. ich kenne ihn auch nicht…. Er ist ja schon eine ganze Weile tot…. Meine Frage: ob du die Fraibacher MS kennst?
MARTIN (schüttelt den Kopf): Nein, aber ich werde mich informieren.
FRÄNZI B.: Also…. Doktor Fraibach…. er… ach du meine Güte… hat als erster die Fraibacher MS untersucht…. darum heisst sie ja „Fraibacher MS“ …ist ja eine spezielle Sorte der MS …
MARTIN: Seit wann bist du denn krank?
FRÄNZI B.: Ja… war schon... immer... also… eigentlich… jaja… eigentlich… krank... also... als kleines...
Mädchen... also... als ich klein war... ja… jaja...
MARTIN: Wo bist du aufgewachsen?
FRÄNZI B.: ... Weiss nicht…ehm…. von wo meine Eltern waren... ich... also… bin da aufgewachsen und so...
MARTIN: Seit wann lebst du also hier?
FRÄNZI B.: ... ehm... also... hab’ schon immer... jaja... ehm... da gelebt und so...
MARTIN: Wolltest du jemals aus dem Heim in eine eigene Wohnung ziehen?
FRÄNZI B.: ...wer zahlt das?... meine Güte!
MARTIN: Bist du eigentlich glücklich hier?
FRÄNZI B.: ... ehm... also… neben physio-… also… ja… hab’ ich... also… auch... ergo-, psycho-…und
so...und... ja... ehm... Wassertherapie... natürlich… jaja... und… jaja... meine Güte…
Beschäftigungstherapie… also…hab’s total gern… jaja… ist meine Lieblingsbeschäftigung… und so… jeden... also... jaja... jeden Mittwochnachmittag... also... ja… jeden Mittwoch-nachmittag haben wir Rekreationstherapie... und so... also... jaja... da spielen wir ehm… Spiele... …und so... wir spielen Rollstuhlfussball... ist ganz spannend...jaja... bin
übrigens ein grosser GC-Fan … jaja… eigentlich… ein sehr grosser GC-Fan… und so... und... jaja: da ist noch Spielgruppe... jaja... jaja... da spielen wir Spiele und so... also am
liebsten spiele ich UNO... Kennst du UNO?... also… meine Güte… ganz gute Sache.. also… hab’ UNO total gern... ja… jaja… ab und zu... also... nicht immer… ja...: nur ab und zu... da spielen wir „Eile mit Weile“... jaja... ja... auch spannend... aber... ehm... hab’ UNO... also… find’ UNO... also... UNO… fast besser... Hab’ auch ganz nette Therapeuten und so... also... ganz nett… und lieb und... ja... und nett… und so... Da ist… Frau… wie heisst sie schon wieder?… Weber… gute Frau.. und nett… und freundlich…ist meine Psychotherapeutin… wir besprechen meine psychischen Probleme… und so…wir schreiben… also… eigentlich… sie schreibt… ein richtiges… jaja… ein Buch über mich… und so…spannende Sache…
MARTIN: Hast du denn psychische Probleme?
FRÄNZI B: … also… eigentlich… jaja… psychische Probleme… also…
MARTIN: Fränzi, was ich von dir wissen wollte: Gefällt es dir hier oder möchtest du lieber woanders
leben?
FRÄNZI B.: ... also... unten, neben dem Ausgang… und so... also... da... da hat’s einen Computerraum…
ja… und so... zehn ganz neue... Maschinen… jaja… hat’s da und so... sind super schnell...
kannst ganz gut ins Internet und so... E-Mails kannst du auch ganz gut schreiben und so... ja…
das geht nur so bsssst…und schon ist alles weg…also ganz wahnsinnig… jaja... also…
also…auch chatten kannst du ganz gut…
MARTIN: Wie viel Assistenz brauchst du täglich?
FRÄNZI B.: Brauch’ Hilfe nur zum Duschen.
MARTIN: Und sonst bist du ganz selbstständig?
FRÄNZI B.: ...ehm... also... ja... noch bin ich... zum Glück... also... ziemlich selbstständig… und so... jaja…
aber muss aber bald…
MARTIN: Brauchst du denn gar keine Schreibassistenz für deine e-Mails oder kannst du alles alleine
schreiben?
FRÄNZI B.(errötet wie eine Erdbeere im Spätfrühling aber gibt keine Antwort).
MARTIN: Was ist mit deinen Eltern?
FRÄNZI B.: Also… habe keine...
MARTIN: Hast du einen Freund?
FRÄNZI B.: also… ja… also… eigentlich… jaja… eigentlich…meine Güte… viele sogar… die meisten hier in diesem Haus sind… also… ja… sind…jaja… meine Freunde… also… sind ganz nett… und so…
MARTIN: Nein, ich meine einen richtigen Freund.
FRÄNZI B.: ehm… also… also… also… wie schon… ja… wie schon gesagt: ich habe… also… jaja… ganz
viele Freunde: … gute Pfleger und Therapeuten… und so… Meine Lieblingsbeschäftigung ist
chatten… total spannend… da kannst du richtig Leute kennen lernen… spannende Sache…
hab total gute Freunde… und so…
MARTIN: Hast du diese dann auch getroffen?
FRÄNZI B.: Jaja… nein… eigentlich … ja… aber… eigentlich… eigentlich nicht…
MARTIN: Kannst du denn schnell auf dem Computer schreiben?
FRÄNZI B.: … jaja… also… es geht so… also… eigentlich… eigentlich…
MARTIN: Eigentlich?
FRÄNZI B.: Keine Antwort, aber errötet erneut.
MARTIN: Nun zu deiner schulischen Ausbildung: bist du gerne in die Schule gegangen?
FRÄNZI B.: ...also... da hast du Rechnen und Sachen gemacht… auch Sprachen und so… jaja... also…
jaja... gut... ganz gut... ja... jaja... also… also… ja… also…
MARTIN: Wo, in welches Schulhaus bist du denn zur Schule gegangen?
FRÄNZI B.: … also... ich... wo jetzt der Computerraum ist... ja... da war früher... du meine Güte… also... jaja... das Klassenzimmer… und so... Dreimal in der Woche... ehm... immer am Montag… jaja..., am Dienstag und... ehm… am... ich glaube... bin nicht sicher... jaja... am Freitag.
MARTIN: Was für Lehrer hattest du?
FRÄNZI B.: Also... die ersten sechs Jahre… ehm… drei Jahre Kindergarten und ehm… drei Jahre Schule...
da kam... ehm... ja... die Frau... also... Frau Vogel... die war gut und so... war ganz nett... ja...
jaja... wurde auch nie böse... Der Rest... also... die restlichen vier Jahre... da kam Frau
Tschudi... böse Frau... immer nur Prüfungen... also... nicht gut... gar nicht gut...
MARTIN: Gingst du nach diesen sieben Jahren nie mehr zur Schule?
FRÄNZI B.: ... ehm... also... ehm… aber es waren ja zehn Jahre und so... jaja... sechs und vier sind zehn.
MARTIN: Gut... Seit dieser Zeit: hast du nie mehr eine Schule besucht?
FRÄNZI B.: ... also... ich... zur Schule... ja... eigentlich... also… bin gar nie so... also... gerne in die Schule...
und so... jaja... da musst du immer still sein und so... viele unnütze Sachen machen... z.B.
Rechnen und so... also... nicht gut... jaja... und immer früh aufstehen... also... nicht gut… und
so... war nie so richtig intelligent… und so… wegen der Krankheit…
MARTIN: Man sagte mir, du habest eine körperliche Krankheit und nicht eine geistige.
FRÄNZI B.: ehm… stimmt schon… eigentlich… eigentlich schon…
MARTIN: Zwei Tage in der Woche arbeitest du in der Werkstatt „Hansli“: was machst du dort?
FRÄNZI B.: ... also... ist eine richtige... also... jaja... richtige Arbeit... und so... also... verpacke Sachen…
und so... ja…jaja…
MARTIN: Arbeitest du gerne dort?
FRÄNZI B.: ... also... es hat dort auch ein Behinderten-WC... und Pfleger... und so... ja, wenn wir aufs WC
müssen … und so...
MARTIN: Aber du kannst ja allein aufs WC...
FRÄNZI B.: ehm… ich selber schon... es hat da aber andere, die... also die sind noch viel schlimmer „zwäg“... jaja... die können nicht einmal allein aufs WC... da ist z.B. die Hanni... die... also die... die kann nicht einmal allein aufs WC... jaja… also... das finde ich richtig schlimm...
MARTIN: Was für einen Lohn bekommst du da?
FRÄNZI B.: … ehm… also… also… eigentlich… also… es ist natürlich...also... keine Arbeit in dem Sinn…
und so... es ist... ja... eher... also... eigentlich... also.. Beschäftigungstherapie…
Förderungsarbeit … und so... meine Güte… etwas müssen wir Behinderte ja auch machen… verstehst du!
MARTIN: Ja, aber konkret: welchen Lohn bekommst du?
FRÄNZI B.: (errötet wie eine Tomate)...
also... ja... also...
MARTIN: Mehr als zehn Franken pro Stunde?
FRÄNZI B.: ... also... ehm... weiss nicht so genau... also...ich... ja... bin damit zufrieden und so...
jaja…verstehst du?
MARTIN: Mehr als zehn Franken in der Stunde?
FRÄNZI B.: ... also... also... glaube... ja... eigentlich…jaja… glaube schon... also...weiss nicht so genau.
MARTIN: Gehst du manchmal auch weg vom Heim, beispielsweise ins Kino?
FRÄNZI B: .... also... ehm... vor zwei Jahren... also... eigentlich… meine Güte… ja... da gab’s eine Extraaufführung... also... im Kino Phenomeno... „Das fröhliche Leben der Familie Happy“... also... guter Film... ganz gut... und so… jaja… also... ganz lustig…. und spannend… Kennst du diesen Film? Also… ganz gut…
MARTIN: Und sonst?
FRÄNZI B: … ja was sonst?
MARTIN: Was du sonst so machst…
FRÄNZI B: .... also... neben „Hänsli“... da hat’s eine Cafeteria und so... ist auch für Behinderte
zugänglich... also... ganz gut... also... da gehe ich ab und zu… also… jaja… eine Cola
trinken… und so...
MARTIN: Wie oft in der Woche verlässt du das Heim?
FRÄNZI B: … also… jaja… seit zehn Jahren gibt es auch da den Sondertransport… also… ganz gute
Sache… ja… einmal pro Woche… ehm… können wir in den Ausgang… das Heim verlassen… nach Y…
MARTIN: Was? Nur einmal pro Woche?
FRÄNZI B.: Besser einmal als gar nie! Ja… man muss… jaja… man muss bescheiden sein… und
dankbar… für das Wenige… jaja… dass wir haben…
MARTIN: Und wenn du lieber nach Z fahren würdest?
FRÄNZI B.: … ja… Z ist ein bisschen zu weit entfernt… da musst du zuviel darauf bezahlen… es werden
nur Fahrten… [bis zu einem gewissen Betrag übernommen]…verstehst du?
MARTIN: Was ist mit Ferien?
FRÄNZI B: .... also... eigentlich… im „Hänsli“… da haben wir… ja… drei Wochen Ferien.
MARTIN: Drei Wochen im Jahr?
FRÄNZI B.: Jaja… und so… ehm... also... weiss nicht... vielleicht… jaja… vielleicht…ehm… sind es
auch… ja… wahrscheinlich…jaja, sieben und so...
MARTIN: Ja, aber was ich fragen wollte: gehst du in den Ferien weg vom Heim?
FRÄNZI B. ... also… ehm... wer zahlt das?
MARTIN: Hast du irgendwelche Pläne für die Zukunft?
FRÄNZI B.: … also… ehm… also… ja… also… Zukunft… also… wie schon gesagt… mit meiner
Krankheit… da stirbst du … also… jaja… mit 25… ehm… also… eigentlich… und so…
jaja… der Realität muss man… meine Güte… also… muss man in die Auge schauen…verstehst du?
MARTIN: Vielen Dank für das Gespräch.

Dieses himmeltraurige und sehr aufschlussreiche Interview wurde im Frühsommer 2001 geführt. Fränzis bescheidene Wortwahl zeugt von einer miserablen Grundausbildung. Mit einer solchen Schulausbildung wurde sie niemals ernsthaft auf ein (Berufs)Leben vorbereitet. Nein, vorbereitet wurde sie viel mehr auf den Tod. Die Experten hatten es ihr ja prophezeit: mit 25 Jahren würde sie so oder so sterben. Mittlerweile ist FRÄNZI – termingerecht, im Alter von 25 Jahren - tatsächlich gestorben, angeblich an den Folgen ihrer schweren Krankheit...
Die Wahrheit ist sehr ähnlich… Der Umstand, dass sie sich ihr Leben lang als krank, als falsch, als unerwünscht, angesehen hat, vielleicht von klein auf zu ihrem Geburtstag und an jedem Weihnachten das Buch „Sterben ist schön“ von Frau Dr. K. R. bekam, hat ihre Lebensfreude mit Sicherheit nicht erhöht. Was war es wohl, was sie bald musste? Die Einbildung ihrer Krankheit hat sie getötet. Die Prophezeiung ihres frühzeitigen Ablebens, das Phantasma ihres Sterbens, die tiefe Einbildung ihres baldigen Todes, hat sich erfüllt. Was sollte sie sich angesichts ihres schweren Schicksals gross anstrengen und mühsames und dummes Zeug - wie „Rechnen oder solche Sachen“ - lernen? Wofür? Und - so hatte man ihr als Kind prophezeit - die wenigen Jahre, die sie noch zu leben hätte, würde sie brav im gut versorgten Heim fristen und geduldig auf den erlösenden Tod warten und eine geringe Rente - ,(die ja vom Heim eingezogen wird) bekommen. Was sie aber mit Sicherheit bekommen würde: monatlich 400 Franken Taschengeld, als ‚Lohn’ für ihre Arbeit im „Hänsli“. Nun würde sie vor dem schier unendlich schwierigen Problem stehen: irgendwie zu überleben und glücklich zu werden, oder wenigstens so zu tun… Nein, : Für sie war sonnenklar: lebendig würde sie das Heim nicht verlassen… Niemals würde sie einen Platz in der menschlichen Gesellschaft einnehmen und am LEBEN teilnehmen können... Als tote Lebende, als lebende Leiche, würde sie ihr trauriges Dasein bis zu ihrem seeligen Absterben in diesem verfluchten Gefängnis fristen!
Diese stumme Perspektivlosigkeit hatte ihr die letzte Lebensenergie geraubt, (vorausgesetzt – was kaum anzunehmen ist - sie hätte sie jemals gehabt). Natürlich hätte sie mehr Assistenz benötigt. Was sie gebraucht hätte wäre eine persönliche Assistenz gewesen. Doch da sie sie vom Heim niemals erhalten hätte, hatte es für sie keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen.
Dass sie mit 25 Jahren gestorben ist, ist kaum verwunderlich. Ihre ganze Biographie, ihr Zuhause, ihre Beschäftigung, ihre Freizeit (die eigentlich gar keine war), tags und nachts, ihr Freundeskreis. Kurz: ihre ganze Welt, ihr ganzes Leben versteckte sich hinter dem metaphorischen Begriff der Krankheit bzw. Invalidität. Unablässig wollte man sie heilen, sie zu etwas machen, was sie nicht war. Ihr ganzes Leben war eine Flucht… Ob sie eigentlich glücklich oder unglücklich im Heim war: Diese Frage hatte sie sich noch nie gestellt. Ein Umstand, der kaum zu erstaunen vermag. An so etwas wie Liebe, Wertschätzung oder Selbstverwirklichung, waren zu weit entfernt, konnte sie nicht einmal denken. Solange nämlich primäre Bedürfnisse (vgl. Maslow) nicht mal im Entferntesten erfüllt wurden. Ihr Sexualleben, wenn man überhaupt von einem solchen reden kann, war ein völlig Imaginäres. Ihre Partner waren entweder die Therapeuten oder Teilnehmer der Chatrunde, die sie übrigens nie getroffen hat.
Fränzi B., die – nach ihren eigenen Worten - eigentlich nicht schwer behindert war, sie brauchte kurz vor ihrem Sterben sehr wenig Assistenz, hätte niemals in einem Heim leben müssen oder sollen. Wie manche andere Heimkinder, so genoss auch sie eine minderwertige Schulausbildung, mit der sie niemals ernsthaft auf ein Berufsleben vorbereitet wurde. Ihre Tagesbeschäftigung war – wie sie selbst sagte – keine richtige Arbeit. In ihrer Werkstatt wurden aber keineswegs minderwertige Produkte, sondern durchaus High-Tech-Waren hergestellt. Ein Gegensatz dazu war ihre geringe Entlöhnung. Die Wahrheit ist, dass Behindertenwerkstätte nichts anderes sind als moderne Sklavenbetriebe. Menschen werden für einen Spottlohn - etwa 60 Rappen in der Stunde - zur Arbeit gezwungen. Meistens stellen Heime nämlich zur Bedingung fürs dortige Wohnen, dass man in der angeschlossenen ‚Manufaktur’ (geschützte Werkstatt) arbeitet. Eine Kondition, die hierzulande - wo es kaum behindertengerechte Wohnungen gibt und der Assistenzbedürftige die nötige Assistenz ausserhalb des Heims nicht zahlen kann - unbedingt befolgt werden muss.

Bedürfnisse des Menschen nach Pawlow

Die Frage, was aus ihr wohl hätte werden können, falls sie – wie „normale“ Kinder auch – nicht in einem Heim aufgewachsen wäre, sondern ihre benötigte Assistenz sich hätte auf dem freien Markt beschaffen können, erscheint (für Fränzi wenigstens) sinnlos. Faktum ist aber, dass es allein in der Schweiz abertausende Fränzis gibt.