4.4.10

75. Total entwürdigende Hilfeleistung

Diese Woche fand in meiner Nähe, auf dem Friedhof Sihlfeld, die Beerdigung eines guten Freundes von mir statt. Da meine Assistentin punkt zwei Uhr gehen musste, meinte ich, dass dies kein Problem wäre, ich würde diesen kurzen Weg auch alleine schaffen. Nach der kurzen Beerdigung, wo ich meine Anwesenheit zeigen wollte, wollte ich zuerst einmal im Friedhof spazieren , und dann nach Hause gehen. Beim Ausgang des Friedhofs, bemerkte ich nicht, dass die Rampe am Rand zu steil war. Ich hätte unbedingt die Beine höher stellen müssen. So passierte nämlich, dass meine Beine durch den abrupten Stopp aus der Halterung rutschten (Streckspasmus) und ich nicht mehr weiterfahren konnte. Ich wartete dort beim Eingang eine ganze Weile, bis schliesslich jemand kam. Die Frau duzte mich auf Anhieb und ich erfuhr, dass sie auch an der Beerdigung dabei gewesen sei. Sie fragte mich, was ich da mache, ob ich irgendwelche Hilfe brauche. Ich entgegnete ihr dankbar, dass mir die Beine nach vorne gerutscht seien und ich fragte sie, ob sie sie wieder befestigen könnte. Gerne war sie dazu bereit, konnte sie aber nicht festmachen. Ich meinte darauf, dass sei kein Problem, sie würde bitte meine Assistentin, die mittlerweile mit Sicherheit bei mir zu Hause war, anrufen und ihr sagen, sie soll bitte hierhin kommen um mir die Füsse zurück zu binden. Im Rucksack wäre nämlich mein Natel… Zuerst musste sie aber das Natel einschalten und entsperren. Darum fragte sie mich, was der Pin-Code sei. Geduldig diktierte ich den Pin-Code und hoffte sie würde mich verstehen. Falsch gehofft. Nach dem zehnten Mal wurde mir klar, dass alle Hoffnung vergeblich war. Sie wollte und wollte nicht verstehen. Darum fragte ich sie, ob sie vielleicht auch selber ein Natel habe, worauf sie mit einem „natürlich“ bestätigte. Also versuchte ich die Nummer zu diktieren. Was sie offensichtlich nicht verstand. Auf die Frage, wo ich denn wohnen würde, wollte ich ihr keine Antwort geben, ich sagte bloss, dies spiele keine Rolle. Kurz danach hörte ich wie sie folgendes sprach: „ Grüezi… Bei mir ist ein behinderter Mann… Und ich habe erst jetzt festgestellt, dass er auch geistig eingeschränkt ist… Er weiss nicht einmal wo er wohnt… Kommen sie bitte sofort her.“ Darauf fragte ich sie sofort, wer dieser geistig eingeschränkte Mann denn sei und wen sie überhaupt angerufen habe. Darauf erklärte sie mir unwillig: „ Du weisst ja, wir sind alle verschieden… Einer kann besser rechnen, der andere kann besser singen und der dritte kann besser turnen und so weiter…“
Ich sah ein, dass es sinnlos war… Da wiederholte ich meine zweite Frage: „ Wen haben sie angerufen ?“ „ Weisst du, sie machen das gerne und problemlos, sie kommen jetzt bald.“
„ Ja schön, aber wer kommt denn nun?“ Da musste ich erfahren, dass sie tatsächlich die Polizei verständigt hatte. Zum wahnsinnig werden… diese himmelschreiende Ignoranz… Unglaublich.
Da wollte ich losfahren, obwohl ich nicht gut fahren konnte, aber selbstverständlich war es möglich zu fahren. Oder besser gesagt: Es wäre möglich gewesen. Die Frau besass tatsächlich noch die Frechheit mich aufzuhalten und sich vor mich zu stellen: „ Jetzt musst du warten. Sie kommen jeden Augenblick…“ Kurz darauf erschien tatsächlich ein Polizeiwagen. Drei Polizisten stiegen aus dem Auto und kamen auf mich zu. Ich schämte mich zutiefst. Ich entschuldigte mich sofort für diese unnötige Störung und meinte, dass gar nichts passiert sei. Ich versicherte den Polizisten, dass ich dieser Frau einfach zuerst einen Pin-code und nachher eine Telefonnummer, meine eigene, diktiert habe und dass sie mich nicht genau verstanden habe und ohne zu zögern und ohne Rücksprache mit mir die Polizei angerufen habe. „Sorry für das ganze Theater.“
Dann bat ich einen Polizisten, er solle bitte mein Natel einschalten und meine Assistentin anrufen. Ich diktierte ihm den Pin-code und er konnte auf Anhieb die Assistentin erreichen. Sie kam noch in der selben Minute.
Diese beleidigende Episode zeigt deutlich wie unwissend beziehungsweise wie dumm gewisse Leute sind und wie sehr sie sich von stereotypischen Bildern und entsprechenden Vorurteilen gegenüber behinderten Menschen blind leiten lassen. Es wäre absolut sinnlos böse auf die oben genannte Frau zu sein… trotzdem kann ich nicht verleugnen, dass sie mich kurzfristig an den Rand der Verzweiflung und des Ärgers gebracht hatte.
Zum Schluss noch das abschliessende Statement der „hilfsbereiten“ Frau:
„Oje… und ich war mir sicher, das Richtige gemacht zu haben.“