10.7.10

BEHINDERTE GENIES

Vorwort
Die Geschichte der Epilepsie ist nur eines unter zahlreichen anderen spannenden Beispielen der Behindertengeschichte. Meine Absicht ist darum, Beiträge über die Geschichte von Behinderten in Europa zu sammeln und für ein breites Publikum zugänglich zu machen. Ich freue mich auf Ihre Ideen: gisep_buchli@hotmail.com


Inhalt:

Einleitung
1. Gaius Julius Caesar (100-44 v.Chr.) (vgl. Wikipedia)
2. Kaiser Karl III. (839-888) (vgl. Wikipedia)
3. Herrmann der Lahme (1013-1054)
4. Heinrich der Löwe (um 1130-1195)
5. Philipp II. (1527-1598) (vgl. Wikipedia)
6. Kardinal Richelieu (1558-1642) (vgl. "Hansjörg Schneble: Heillos, heilig, heilbar, Geschichte der Epilepsie". S. 145-146, Berlin 2003)
7. Wallenstein ( Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein (1583-1634) (vgl. Wikipedia)
8. Napoleon I. (1769-1821) (vgl. "Hansjörg Schneble: Heillos, heilig, heilbar, Geschichte der Epilepsie". S. 140,142-143, Berlin 2003)
9. Erzherzog Karl von Österreich (1771-1847) (vgl. Wikipedia)
10. Lichtenberg (1742-1799) contra Lavater (1741-1801) (vgl. Wikipedia)
11. Hölderlin (1770-1843) und Hardenberg (1772-1801) (vgl. Wikipedia)
12. Beethoven (1770-1827) und Schumann (1810-1856) (vgl. Wikipedia)
13. Kaiser Ferdinand I. (1793-1875) (vgl. Wikipedia)
14. Papst Pius IX. (1792-1878) (vgl. Wikipedia)
15. Heinrich Heine (1797.1856)(vgl. Wikipedia)
16. Norbert Burgmüller (1810-1836)(vgl. Wikipedia)
17. Gustave Flaubert (1821-1880) (vgl. Wikipedia)
18. Fjodor Dostojewskij (1821-1881) (vgl. Wikipedia)
19. Alfred Nobel (1833-1896) (vgl. Wikipedia)
20. Friedrich Nietzsche (1844-1900)
21. Margarete Steiff (1847-1909)
22. Vincent van Gogh (1853-1890) (vgl. Wikipedia)
23. Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) (vgl. Wikipedia)
24. Franklin Delano Roosevelt (1882-1945) (vgl. Wikipedia)
25. Stephen Hawking (geb. 1942)
26. Wolfgang Schäuble (geb. 1942) (vgl. Wikipedia)
27. Michel Petrucciani (1962-1999) (vgl. Wikipedia)


Einleitung
Es ist sinnvoll und absolut notwendig, dass sich Behinderte gegen ihre Diskriminierung, d.h. gegen ihre mit Füssen getretenen Menschenrechte zur Wehr setzen. Nachdem dieser Umstand von Behinderten selber bereits in den 1990er Jahren erkannt wurde, gehört es heute zu einem dringenden Desiderat, die Geschichte von Behinderten historisch aufzuarbeiten. Ein Versuch in dieser Richtung existiert schon seit den 1980er Jahren in den USA: Die Disability History Association sammelt seit Jahrzehnten Beiträge zu herausragenden Behinderten in der Geschichte, darunter auch Roosevelt, der US-Präsident während des Zweiten Weltkriegs. Das Hauptproblem dabei ist, dass das Geschichtsverständnis in den USA ein anderes als hierzulande ist. Das heisst: Für die meisten amerikanischen Kollegen fängt die Geschichte – sowohl jene von amerikanischen Behinderten wie auch die ihres Landes überhaupt – erst mit der Moderne an. In Europa hingegen reicht die Geschichte von Behinderten noch viel weiter zurück.
Ein Beispiel dafür ist die Epilepsie: Schon seit der Antike gehörte sie zu den rätselhaftesten Erscheinungen, die als Laune Gottes interpretiert wurde. Schon in der Bibel gibt es mehrere Erwähnungen, die von einer rätselhaften „Fallsucht“ bzw. „Mondsucht“ berichten. Im späteren Mittelalter gab es gleich zwei Schutzpatrone gegen Epilepsie: Valentin von Terni (3. Jh.), der ebenfalls Patron der Liebenden ist (Valentinstag), und Valentin von Rätien (5. Jh.), Apostel der römischen Provinz Rätien. Keiner der beiden hatte aber Epilepsie oder gar etwas zur Linderung von Epilepsie-Betroffenen beigetragen. Schutzpatrone wurden sie einzig und allein, weil ihr Name Valentin an den Satz „Fall nicht hin!“ erinnerte, da im Alemannischen das V wie ein F ausgesprochen wird.
Aber was hat Valentin von Rätien überhaupt mit dem heutigen Kanton Graubünden zu tun? So gut wie gar nichts. Ausser: Die Bewohner Rätiens hinterliessen eine heute noch in Graubünden gesprochene Sprache: das Rätoromanische, das seit der Reformationszeit schriftlich festgehalten wird. Der etymologische Hintergrund des Namens Valentin hat tatsächlich eine ganz andere Herkunft: Sie stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „der Wertvolle“ (valere = wertvoll sein) – im Gegensatz zu „Invalide“, dem noch heute in der Schweiz offiziellen Ausdruck für Behinderte. Das Wort invalid bedeutet „wertlos“ und sollte darum für die Bezeichnung von Menschen vermieden werden.
Valentin von Rätien stammte aus den Niederlanden und starb in der Nähe von Meran, möglicherweise in St. Valentin an der Haide beim Reschensee, in der Nähe des Engadins. Papst Leo der Grosse hatte ihn als Bischoff von Rätien eingesetzt. Als Schutzpatron gegen Epilepsie steht dieser „Bündner“ am Anfang einer langen Kulturgeschichte europäischer Behinderter. Geniale Künstler wie Van Gogh, Flaubert oder Dostojewskij litten z.B. an Epilepsie, was sich auch in ihren – wertvollen – Werken widerspiegelt.
Gisep Buchli



Hermann der Lahme

Als typisches Beispiel eines Vertreters des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts beschrieb der Münchner Historiker Friedrich G. von Giesebrecht im Jahr 1875 Hermann den Lahmen wie folgt:
„Verkrüppelt, gichtbrüchig, auch mit der Sprache behindert, ergab er sich, von dem weltlichen Leben ausgeschlossen, ganz dem Studium…Auf seinen Sessel gebannt, konnte Hermann nur mitteilen, was er in den Büchern fand oder was die Fama ihm zuführte; besonders verließ er sich auf die Bücher und hat selbst bei den ihm gleichzeitigen Begebenheiten sie vor allem benutzt.“
Im gleichen Jahr beschreibt der Pfarrer, engagierte Lokalpolitiker und laienhafte Heimatforscher Heinrich Hansjakob in Hagenau Hermann den Lahmen als „leidenschaftlichen Zeitgenossen und Zeitkritiker“. Er habe sich zu den akuten Fragen der Zeit eine begründete Meinung erarbeitet, „zwar mit Hilfe gelehrter Tugenden, wie Belesenheit und Genauigkeit, aber nicht um ihretwillen, sondern angeregt von Gemeinschaften seiner engeren Heimat – seine gräfische Herkunft aus der nördlichen Bodenseeregion und besonders sein Mönchskonvent auf der Insel Reichenau“. Hermann wurde ein großer Gelehrter – so Hansjakob – „wenn er über intellektuelle Kenntnisse hinaus zur moralischen Wirkung strebte und seine sinnliche Überzeugung standfest vertrat“.
Heute wird kaum von jemandem bezweifelt, dass Hermann der Lahme „einer der größten Gelehrten des Mittelalters“ war, und dass er „das beste Geschichtsbuch des 11. Jahrhunderts verfasste“. Gegenwärtig wird nicht nur der Umstand besonders hervorgehoben, dass er – wie es nach heutigem Vokabular heißen würde – besonders schwer „behindert“ war, sondern seine Leistungen; nicht nur jene der Geschichtsschreibung, sondern auch jenen Beitrag zur Computistik.
Hermann der Lahme, von klein auf spastisch gelähmt, geboren 1013 und gestorben 1054, wurde schon von seinen Zeitgenossen respektiert und geliebt. Schon zu Lebzeiten wurde er als Heiliger verehrt. Besonders seine Gedichte (in lateinischer Sprache – die Schriftsprache des Mittelalters) und seine Kompositionen (er gilt noch heute als ein großer Dichter und Musiker, seine Lieder werden zum Teil noch heute gesungen). Außerdem beschäftigte er sich eingehend mit Musik, Astronomie, Mechanik und Mathematik. Von seinen Werken ist am Besten bekannt sein in lateinisch verfasstes ‚Chronicon‘, eine von Christi Geburt bis Mitte 1054 reichende Weltchronik in der Form von Annalen. Es ist die erste genaue Chronographie seit der Antike.
Mönche, Päpste, Fürsten und Kaiser bewunderten ihn. Er wurde mit der höchsten Ehrenmedaille ausgezeichnet, die das Mittelalter zu vergeben hatte: Er wurde kurz nach seinem Tod heilig gesprochen und im Petersdom begraben.
Sein Schüler Berthold, der ihn als „heros magnus“ bezeichnet, schreibt Folgendes über ihn:
„Seine Glieder waren auf so grausame Weise versteift, dass er sich von der Stelle, an die man ihn setzte, nicht wegbewegen, nicht einmal auf die andere Seite drehen konnte. Obwohl er auch an Mund, Zunge und Lippe gelähmt war und nur gebrochene und schwer verständliche Worte langsam hervorbringen konnte, war er seinen Schülern ein beredter und eifriger Lehrer, munter und heiter in der Rede, in der Gegenrede äußerst schlagfertig, zur Beantwortung von Fragen immer bereit. Stets glaubte dieser Mensch ohne Tadel, sich alle Fähigkeiten aneignen zu müssen, ob er nun mit seinen ebenfalls gekrümmten Fingern etwas Neues aufschrieb, ob er für sich oder mit andern etwas Geschriebenes las, oder ob er sich mit ganzer Anspannung an irgendeine nützliche oder notwendige Arbeit machte. …Keiner verstand wie er, Uhren zu machen, Musikinstrumente zu bauen, mechanische Arbeiten auszuführen. Mit diesen und vielen andern Dingen, deren Aufzählung zu lange dauern würde, beschäftigte er sich ständig, soweit es überhaupt sein schwacher Körper zuließ.“
Wie seinen Schülern, wäre im Mittelalter niemanden in den Sinn gekommen, den schwerbehinderten Hermannus als minderwertig zu bezeichnen. Im Gegensatz dazu zerbricht man sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts den Kopf darüber, welche Krankheit er wohl gehabt hätte.


Heinrich der Löwe

Heinrich der Löwe wurde vermutlich 1129/31 in Ravensburg geboren. Er kam aus dem Fürstengeschlecht der Welfen und war Herzog von Sachsen (1142-1180) und von Bayern (1156-1180). Sein Hauptinteresse galt dem Ausbau und der Stärkung der welfischen Hausmacht. Braunschweig baute er zu seiner Residenz aus. Dennoch unterstützte Heinrich zwischen 1157 und 1159 auch den nachfolgenden Kaiser Friedrich Barbarossa auf dessen Feldzügen in Polen und Italien.
Heinrich der Löwe unterwarf die slawischen Stämme östlich der Elbe, eroberte Rügen und siedelte in den eroberten Gebieten Deutsche an. Mit dieser expansiven Territorialpolitik, vor allem im Norden, schuf sich Heinrich zahlreiche Feinde unter den Reichsfürsten. Gegen diese Fürstenopposition konnte er sich aber mit kaiserlicher Hilfe durchsetzen. 1168 heiratete er die hoch kultivierte – ihm kulturell weit überlegene – Mathilde von England. 1176 verweigerte Heinrich in Chiavenna - auf dem Höhepunkt seiner Macht - dem Kaiser Friedrich Barbarossa bei dessen Italienzug gegen den Lombardenbund die notwendige militärische Unterstützung. Daraufhin verhängte Barbarossa 1179 die Reichsacht über Heinrich und entzog ihm seine Herzogtümer.
Die nationalsozialistische Propaganda bezog sich auf Heinrichs expansive Territorialpolitik gen Osten als „programmatische Bejahung des Angriffs auf Polen“ und interpretierte Heinrich den Löwen als vermeintlichen „Vorläufer nationalsozialistischer Lebensraum-Politik“. Bereits 1935 veranlasste der Ministerpräsident von Braunschweig die Öffnung der Löwengruft im Braunschweiger Dom. Im Laufe der Neuzeit hatte man schon mehrfach Untersuchungen vorgenommen, so dass man 1935 keineswegs auf eine unangetastete Anlage traf. Die „archäologische“ Ausgrabung wurde zudem unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgenommen: Erst nachträglich zog man den Landesarchäologen Hofmeister hinzu.
Der zu Tage geförderte Steinsarkophag wurde bedenkenlos Heinrich dem Löwen zugeordnet. Die zudem gefundene Leiche in jener Höhle im fast vermoderten Holzsarg deutete man ohne groß zu zögern als Mathilde, seine Gattin. Die anthropologischen Befunde, die überhaupt nicht wissenschaftlich diskutiert wurden, lassen solche Interpretationen jedoch als unhaltbar erscheinen. Das Ergebnis der Gruftöffnung war ohnehin ernüchternd genug und für alle Anwesenden eine Riesenenttäuschung: Kein blonder germanischer Krieger und Riese trat zum Vorschein, sondern ein eher schmächtiges Skelett mit dunklem Haar und einer – oh Schreck – Hüftluxation, was mit Sicherheit bedeutete, dass jenes gefundene Knochengerüst einer hinkenden Person gehört haben muss. War das etwa der heldenhafte Löwe? Dieser Frage ging man besser nicht nach. Besser war, dass die Verantwortlichen sich über die sterblichen Überreste in Schweigen hüllten. Dabei waren zahlreiche NS-Größen, darunter auch Hitler, persönlich am 17. Juli 1935 zur Besichtigung nach Braunschweig gekommen.
Auf Betreiben des Ministerpräsidenten wurde der Braunschweiger Dom bis 1940 zur nationalen Weihstätte und zum „Staatsdom“ umgestaltet. Himmler, der noch über seine eigene Reinkarnation Heinrich des Löwen nachgrübelte, mag von den Braunschweiger Befunden nicht gerade begeistert gewesen sein. Umso kraftvoller fiel der monumentale Bau einer neuen Gruftanlage Heinrichs in grauem Granit aus.
Nun galt Heinrich der Löwe nicht mehr als Vorkämpfer der Ostkolonisation. Jetzt wurde seine Doppelgesichtigkeit betont: Ein Verräter an Kaiser und Reich in der Stunde von Not und Gefahr, ein Eidbrüchiger, ein Wegbereiter der „Rassenmischung“ im Osten. Hitler selbst kritisierte Heinrich als „Kleinsiedler“, der nicht das „Format der deutschen Kaiser“ gehabt hätte. Eine SS-Division hieß „Hohenstaufen“ (und nicht „Welfen“). Der Übergriff auf die Sowjetunion im Jahr 1941 trug den Namen „Unternehmen Barbarossa“.


Friedrich Nietzsche

Sils-Maria
Hier saß ich, wartend, wartend, - doch auf nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde eins zu zwei -
- Und Zarathustra ging an mir vorbei ...


Friedrich Nietzsche

Nietzsche gilt heute in allen Geisteswissenschaften als eine immanent wichtige Referenzgröβe: Oft genügt ein Nietzsche-Zitat, um ein Buch oder eine Aussage zu disqualifizieren oder zu bestätigen.
Die bedeutendsten seiner prophetischen Bücher entstanden in den 1880er Jahren in Sils-Maria, wohin er sich nach seiner Emeritierung von seiner Basler Professur in den Sommermonaten zur Erholung, Inspiration und schriftstellerischen Tätigkeit zurückzog. So schreibt Nietzsche in seiner Autobiographie:
„Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundconception des Werks, der Ewige-Widerkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann -, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: „6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit“. Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke. – Rechne ich von diesem Rage ein paar Monate zurück, so finde ich, als Vorzeichen, eine plötzliche und im Tiefsten entscheidende Veränderung meines Geschmacks, vor Allem in der Musik. Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen.; - sicherlich war eine Wiedergeburt in der Kunst zu hören, eine Vorausbedingung dazu.“ (S.91)

Was dachte der Philosoph über unser Thema: Behinderung? Hat er sich jemals dazu geäussert? Ja, in sehr abschätzigem Ton! Es scheint richtig zu sein, dass Nietzsche in mehreren Schriften späteren Eugenikern die nötigen behindertenfeindlichen Ansätze geliefert hat, insbesondere mit seiner Idee vom Übermenschen (dieser Umstand wird allerdings von mehreren Nietzsche-Kennern vehement in Frage gestellt). Aber - wenigstens auf den ersten Blick erscheinen seine Schriften als sehr behindertenunfreundlich. Damit prägte er verschiedene Entwicklungen der Behindertenphobie massgebend; (Man vergleiche hierzu etwa die berühmte Studie von Weingart, Kroll und Bayertz „Rasse, Blut und Gene“, S. 70-72). Dies trifft auf seine eigene Biographie nicht zu: Spätestens seit 1879 war er selber behindert. Nietzsche trug seine Behinderungen mit beispielhafter Bravur – manchmal sogar mit Stolz. So schreibt er in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“:
„Ja ich bin allem meinem Elend und Kranksein – und was nur immer unvollkommen an mir ist – im untersten Grunde meiner Seele erkenntlich gesinnt, weil dergleichen mir hundert Hintertüren läβt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten entrinnen kann.“ (Aphorismus 295)
In den letzten 20 Jahren seines Lebens lebte er mit persönlicher Assistenz. Dazu schrieb er in seiner Autobiographie:
„Damals entschied sich mein Instinkt gegen ein noch längeres Nachgeben, Mitgehen, Mich-selbst-verwechseln. Jede Art Leben, die ungünstigsten Bedingungen, Krankheit Armut – Alles schien mir jener unwürdigen „Selbstlosigkeit“ vorziehenswerth, in die ich zuerst aus Unwissenheit, aus Jugend gerathen war, in der ich später aus Trägheit, aus sogenanntem „Pflichtgefühl“ hängen geblieben war. – Hier kam mir, auf eine Weise, die ich nicht genug bewundern kann, und gerade zur rechten Zeit jene schlimme Erbschaft von Seiten meines Vaters her zu Hülf, - im Grunde eine Vorbestimmung zu einem frühen Tode. Die Krankheit löste mich langsam heraus: sie ersparte mir jeden Bruch, jeden gewalttätigen und anstössigen Schritt. Ich habe kein Wohlwollen damals eingebüsst und viel noch hinzugewonnen. Die Krankheit gab mir insgleichen ein Recht zu einer vollkommnen Umkehr aller meiner Gewohnheiten; sie erlaubte, sie gebot mir Vergessen; sie beschenkte mich mit der Nöthigung zum Stillliegen, zum Müssiggang, zum Warten und Geduldigsein… Aber das heisst ja denken!... Meine Augen allein machten ein Ende mit aller Bücherwürmerei, auf deutsch: Philologie: ich war vom „Buch“ erlöst, ich las jahrelang nichts mehr – die grösste Wohltat, die ich mir je erwisen habe! – Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still geworden unter einem beständigen Hören-Müssen auf andre Selbste (- und das heisst ja lesen!) erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, - aber endlich redete es wieder. Nie habe ich so viel Glück an mir gehabt, als in den kränksten und schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens: man hat nur die „Morgenröthe“ [Morgenröte – Gedanken über die moralischen Vorurteile, 1881] oder etwa den „Wanderer und seinen Schatten“ [Der Wanderer und sein Schatten, 1879] sich anzusehen , um zu begreifen, was diese „Rückkehr zu mir“ war: eine höchste Art von Genesung selbst!... Die andre folgte bloss daraus. –“ (S.81-82)


Es ist anzunehmen, dass genau dieser Umstand, dass er nämlich selber behindert war (seine Behinderung aber nie annehmen konnte), ihn zum Behindertenskeptiker, um nicht zu sagen: zum Behindertenfeind machte.
Bereits mit 24 Jahren wurde er als Professor für Altphilologie an die Universität Basel berufen. Schon nach zehnjähriger Lehrtätigkeit sah sich Nietzsche gezwungen, seinen Job aufzugeben: Einerseits interessierte er sich mehr für Philosophie, andererseits fühlte er sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr im Stande seinen Lehrauftrag zu erfüllen. Nach seiner Pensionierung im jungen Alter von 35 Jahren suchte er sich verschiedene Domizile aus, die sein Herz besonders ansprachen – darunter Sils-Maria, Nizza, Turin, Naumburg und noch andere - und reiste von einem Ort zum anderen. Besonders seine progressive Sehschwäche – zeitweilig war er vollkommen blind – und seine möglicherweise damit zusammenhängenden massiven Kopfschmerzen zwangen ihn sehr bald, ständig einen persönlichen Assistenten, er nannte ihn Privatsekretär, überall hin mitzunehmen. Dieser verfügte über Fähigkeiten, die Nietzsche besonders schätzte und welche die Vollendung seiner Werke überhaupt erst ermöglichten: so hatte Heinrich Köselitz – Nietzsche nannte ihn Peter Gast, gelegentlich auch „maestro Pietro Gasti“ oder „der zweite Mozart“ – eine besonders schöne, lesbare Handschrift. Er war Berufsmusiker und konnte dem Musikliebhaber Nietzsche so auf Wunsch auch vorspielen. Die wichtigsten Aufgaben des Assistenten waren das Vorlesen seiner Lektüre, die Aufrechterhaltung Nietzsches Korrespondenz und Niederschreibung des Diktats für seine Schriften. Köselitz hatte sich im zweiten Studium mit Philosophie und besonders mit seinem hochverehrten Nietzsche beschäftigt. Ohne die Assistenz von Peter Gast wären Nietzsches Werke wohl kaum entstanden. In seinem „ecce homo“ (S.82-83) schreibt er:

„Menschliches, Allzumenschliches, [1879] dies Denkmal einer rigorösen Selbstzucht, mir der ich bei mir allem eingeschleppten „höheren Schwindel“, „Idealismus“, „schönen Gefühl“ und andren Weiblichkeiten ein jähes Ende bereitete, wurde in allen Hauptsachen in Sorrent niedergeschrieben; es bekam seinen Schluss, seine endgültige Form in einem Basler Winter, unter ungleich ungünstigeren Verhältnissen als denen in Sorrent. Im Grunde hat Herr Peter Gast, damals an der Basler Universität studirend und mir sehr zugethan, das Buch auf dem Gewissen. Ich diktirte, den Kopf verbunden und schmerzhaft, er schrieb ab, er corrigirte auch, - er war im Grunde der eigentliche Schriftsteller, während ich bloss der Autor war.“

Um die gegenseitige Anerkennung in diesem Assistenzverhältnis aufzuzeigen, seien drei Begebenheiten erwähnt, die ich nach Marc Hofmann zitiere:
„Der Zürcher Tonhallendirigent Friedrich Hegar gehörte zu den Verehrern Nietzsches und lud diesen während seines Zürcher Aufenthaltes 1884 als Gast zu seinen Proben in den Konzertsaal ein. Er bot an, ihm vorzuspielen, was immer er wolle. Nietzsche bestellte darauf kurzerhand bei Köselitz die Partitur des Löwen von Venedig , liess in Zürich die Ouvertüre in Orchesterstimmen umschreiben und erlebte am 18. Oktober 1884 in der Tonhalle die Privat-Uraufführung. Hegar beklagte Köselitzens Unerfahrenheit in der Instrumentation und bot ihm via Nietzsche sein Orchester zum üben an. Köselitz kam sofort nach Zürich, um diese Gelegenheit wahrzunehmen. Somit stand der ´neue Mozart´ endlich vor einem Orchester und durfte schon am 7. Dezember im Gesangsvereins-Konzert seine ´Löwen´-Ouvertüre mit beachtlichem Erfolg selber dirigieren.“
Kennzeichnend für Köselitz´ Verhältnis zu Nietzsche ist auch die Reaktion auf Nietzsches geistigen Zusammenbruch: „In den Tagen der Umnachtung hatte Nietzsche zahlreiche sogenannte ´Wahnsinnszettel´ verschickt, in denen er Freunden und Feinden gleichsam seine letzten Verfügungen mitteilte. Während in Basel zuerst Jacob Burckhardt und dann auch Franz Overbeck den ausbrechenden Wahnsinn in diesen Mitteilungen erkannten und Massnahmen für den Rücktransport des Erkrankten trafen, war Köselitz in seiner Bewunderung für Nietzsche völlig blind: Der Text des Zettels für Köselitz lautete: ´Meinem maestro Pietro. Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich. Der Gekreuzigte.´ - Der ahnungslose Köselitz antwortete zunächst in naiver Ehrfurcht: ´Es müssen grosse Dinge sein, die mit Ihnen vorgehen. Ihr Enthusiasmus, Ihre Gesundheit und Alles, was Sie ´reinen Leibs, geweihten Sinns´ gethan oder als gethan ahnen lassen, muss auch die Siechhaftesten aufrütteln; Sie sind eine ansteckende Gesundheit …´“
Beachtenswürdig ist auch Köselitz´ Reaktion auf Overbecks Nachricht, dass Nietzsche von ihm in eine Irrenanstalt eingeliefert worden sei:

„Mein lieber Herr Köselitz,
kaum sonst gegen Jemand mehr als gegen Sie fühle ich mich durch die Verpflichtung zu sofortiger Mittheilung eines entsetzlichen Unglücks gedrängt. Ein paar hierher gerichtete Briefe constatirten für mich den Ausbruch von Nietzsches Wahnsinn. Montag Abend reiste ich nach Turin, gestern früh habe ich ihn oder vielmehr einen nur für den Freund kenntlichen Trümmerhaufen von ihm dem hiesigen Irrenspital übergeben. Dort gilt sein Fall, zunächst durch den unangemessenen Grössenwahn characterisirt, aber durch wie Vieles andere sonst! – als hoffnungslos. Ich habe kein ebenso entsetzliches Bild von Zerstörung gesehen. Aus vielen Gründen muss ich es heute bei dieser Mittheilung bewenden lassen. Welche Antwort auf Ihren bei meiner Rückkehr vorgefundenen Brief. Sie wissen jedenfalls wie ich mit Ihnen traure
Ihr herzlich ergebener Fr. Overbeck“ (S. 200-201)

Darauf antwortete Heinrich Köselitz:

„Verehrter Herr Professor!
Ihre Nachricht hat mich auf`s Tiefste erschüttert! Ich bringe es noch nicht zu Weg, Nietzschen, für mich eine der höchsten Erscheinungen der menschlichen Race, mir in die Zelle eines Irrenhauses gesperrt zu denken. Das Crescendo seines Selbstgefühls, das Jedem, der von Nietzsches`s Zielen keine Ahnung hatte, bereits bedenklich werden musste, schien mir vollkommen berechtigt. Er hat das Recht zum Grössenwahn. Aber jedenfalls arbeitete seine Maschine mit viel zu grosser Vehemenz; denn was er im letzten halben Jahr gethan, lauter letzte Quintessenz-Sachen, das hat sein Gehirn erschöpft. Und nun werden seine grossen Empfindungen wahrscheinlich nicht mehr durch das erforderliche Quantum von Vernunft gehalten und regulirt.
Ach! Er hat mich oft gebeten, nach Turin zu kommen – und ich habe es nicht gethan! Es versteht sich von selbst, dass ich mir keinen andern Einfluss auf ihn zuschreibe, als dass ich ihn zerstreut, aufgehalten, seine abnorme Einsamkeit gestört hätte. Das aber äre eine Wohlthat für ihn gewesen! Gegen ihn konnte man ja gar kein andrer Wohlthäter sein, als ihn vor dem rapiden Verbrauch von Gehirnmasse zu schützen!
Nun, ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass er wieder herzustellen sei. Denn das Schauerlichste an der ganzen Geschichte wäre doch, dass die Philister kommen und sagen: Seht, da habt ihr`s! So muss es Jedem gehen, der u. s. w. –
Das ganze Unglück ist, wie gesagt, dass kein verlangsamendes Princip in Nietzsche`s Nähe war. Denn N.`s geistige Potenz war ungeheuer; sie hätte sich gar nicht so verzehren können, wenn sie es nicht gewesen wäre. […]
Ihr H.K.“ (S. 201-202)

Was die genaue medizinische Ursache seiner Behinderung war ist unklar. Ob er – wie oft behauptet – tatsächlich seit einem Prostituiertenbesuch an der Geschlechtskrankheit Lues litt, ist nicht erwiesen, aber möglich. Verschiedene Spekulationen entstanden kurz nach seinem Tode: unter anderem Haschisch-Paralyse, Paranoia, Hysterie, Schizophrenie, Zyklothymie, Epilepsie (Nietzsche-Handbuch, Henning Ottmann, 2000, S. 58). Bleiben wir aber bei den Tatsachen: Nietzsche wurde im Januar 1889 nach seinem sog. Turiner Zusammensturz von Freunden in eine Irrenanstalt in Basel eingeliefert: mit der Diagnose progressive Paralyse.
Was hingegen aus seinen Schriften klar hervor geht: er war in den Alltagsverrichtungen stark eingeschränkt, und würde somit heute als Behinderter bezeichnet. Er selber hätte sich niemals so bezeichnet. Für alle Behinderten bedeutet es heute noch ein grosser Schritt, der immense Überwindung erfordert, um sich als das zu erkennen und zu akzeptieren, was sie in Wahrheit sind: Menschen mit einer Behinderung.
Vor rund 130 Jahren verfügte der berühmte ehemalige Basler Professor – und somit verhältnismässig Wohlhabende - über die Form der Unterstützung, die schwerbehinderte Menschen in der Schweiz erst mit der 6. IV-Revision auch erhalten sollen: die Möglichkeit für alle, die Assistenz benötigen (und nicht nur für wohlhabende Ex-Dozenten), eine persönliche Hilfskraft anzustellen. Kurz: Am Fall Nietzsche kann man deutlich erkennen, zu welchen Leistungen Behinderte im Stande sind: wenn sie nur die Möglichkeit dazu erhalten.


Margarete Steiff

„Es ist geradezu eine Ironie des Schicksals: Ihre Körperbehinderung verhindert paradoxerweise, dass sich Margarete Steiff von den gängigen bürgerlichen Werten, denen die Frauen dieser Zeit unterliegen, allzu sehr beeinflussen lässt. Das Gefühl der „Behinderung“ ist immer auch ein Ergebnis von gesellschaftlichen Bewertungen und offensichtlich nicht naturgegeben.“ (S. 93)


Stephen Hawking

1963 wurde bei Hawking eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems (Amyotrophe Lateralsklerose, abgekürzt ALS) diagnostiziert. Mediziner prophezeiten ihm, nur noch wenige Jahre zu leben.[2] Es handelt sich vermutlich um eine chronisch juvenile ALS, die durch einen extrem langen Krankheitsverlauf gekennzeichnet ist. Seit 1968 ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Durch einen Luftröhrenschnitt 1985 verlor er die Fähigkeit zu sprechen und ist für die verbale Kommunikation auf die Benutzung eines Sprachcomputers angewiesen, den er mit seinem rechten Wangenmuskel steuert.